Geschichte erscheint uns zunächst als etwas Abstraktes, erst durch den
Lebensatem einzelner Menschen in ihrem Zeitstrom wird sie lebendig. Es scheint dabei, als hätten
Menschen ihre eigene Lebensformel, die ihr innerstes Wesen offenbart. Dies ist spürbar in dem
Romandebüt von Eva Kelch über das Schicksal der Heidrun Schwarzwasser.
Nomen est omen? Heidrun erlebt als Kind mit ihrer Mutter die Bombenangriffe in Berlin,
Vater ist im Krieg. Ihre starke Liebe zur Musik läßt sie von einer Laufbahn als Pianistin träumen.
Nach Kriegsende will sie anschließend an das Abitur Musik studieren, doch die Mutter und deren
einflußreicher Freund sowie ihr Vater zwingen sie zur Arbeit in der Verwaltung. Widerwillig
fügt sich Heidrun. Mit der ihr eigenen Besessenheit und Gründlichkeit gilt sie bald als
vorbildlich und wird in die Handelsvertretung der DDR nach Moskau delegiert. In diesen
Jahren muß sie auch den Verlust ihrer ersten Liebe verwinden. Dann verliebt sie sich
leidenschaftlich in einen jungen russischen Dolmetscher. Doch nach
ihrer Rückkehr in die DDR erleidet sie einen tiefen Einbruch, gewissermaßen die
Zerstörung ihrer Hoffnungen und Träume. Ihre Liebe zur Musik wird ihr nämlich zum
Verhängnis. Von einem Westberliner Rundfunksender erhält sie Programme zu Opernübertragungen.
Plötzlich wird Heidrun deshalb in den Augen fanatisch-engstirniger Funktionäre zu einer
Klassen- und Staatsfeindin. Fristlos entlassen, steht sie vor einem Zusammenbruch. In der
Produktion soll sie sich „bewähren“. Den „neuen Anfang“ schildert Band 2 des Romans.
Packend ist dargestellt, wie schwere, ungewohnte Arbeit in einem Betrieb die junge Frau zunächst
an den Rand der Verzweiflung treibt. Aber da sind, für Heidrun unerwartet, Menschen,
die ihr mit Geduld und Verständnis entgegenkommen und ihr helfen: Meister Kott, Schichtleiter
Peter und andere. Ein Kontrast zu den dogmatischen, mißtrauischen, staatstragenden Machthaber-Typen tut
sich auf. Heidrun erfährt: Es gibt noch menschliche Anständigkeit, Güte und Kollegialität.
Die Autorin, Jahrgang 1935, gestaltet hier typische Widersprüche im gesellschaftlichen
Leben der DDR und zeigt Verhaltensweisen, fern von ideologisch geprägten Prämissen. Sie
demonstriert überzeugend, wie sich enge menschliche Beziehungen herausbilden und sich
Solidarität über die sogenannten Klassenschranken hinaus bewährt. Vor allem da, wo die
Lebensumstände nicht ausschließlich von dogmatischen Prinzipien geprägt sind. In der
gegenwärtigen Zeit des zunehmenden Verfalls ethischer Werte, wo alle Leistungen und
Handlungen nur daran gemessen werden, ob sie „sich rechnen“, können solcherart Erfahrungen
andere Aspekte zeigen und Denkanstöße geben. Die Romanheldin betreibt nach einem Unfall ihre
autodidaktischen Musikstudien weiter und schreibt Sängerporträts. Dadurch erregt sie die Aufmerksamkeit
des weltbekannten Intendanten und Regisseurs eines Berliner Opernhauses. Sie wird dessen enge
Mitarbeiterin. Eine faszinierende Szene künstlerischer Arbeit und Ausstrahlung eröffnet sich ihr.
Konkrete Einblicke in das Geschehen hinter den Kulissen, Rivalitäten der Künstler
untereinander, dramatisch ablaufende Proben, hohe musikalische Kunst und eine neue
unerfüllbare Liebe zu einem ausländischen Sänger bestimmen nun ihr Leben. Hart empfindet sie
die Kluft, die sich zwischen der Erlebniswelt physisch arbeitender Menschen und der
Kunstszene auftut. Heidrun möchte mithelfen, sie zu überwinden. Aber dann kommt in der DDR die
sogenannte Wende. Heidrun wird arbeitslos und durchleidet alle Qualen dieses Daseins. Eine schwere
Krankheit der Mutter stellt sie vor neue Anforderungen. Aufopferungsvoll pflegt sie die Mutter.
Doch die Zerstörung ihrer Lebensträume und Illusionen, das Leben ohne Perspektive stürzen sie in einen
existentiellen Grenzzustand. „Aber jede gelebte Illusion ist ein Faktum“, schrieb Romain Rolland.
Schließlich siegen die Liebe zur Mutter, das Bewußtsein dieser großen menschlichen
Verpflichtung in Heidrun; sie wendet sich wieder dem Leben zu. Die Protagonistin wird als ein Mensch
voller Extreme geschildert. Gefühlvoll, doch mit klarem Blick für Realitäten. Eine Frau, die mit
bemerkenswerter innerer Tapferkeit wechselvolle Situationen, Krisen und schwere Zumutungen meistert.
Trotz wiederholt zerschlagener Ideale und Hoffnungen ist sie zutiefst erfüllt von der Überzeugung,
daß der Mensch sich immer als solcher bewähren muß - er muß „aufrecht stehen, nicht aufrecht gehalten
werden“, wie einst Marc Aurel forderte. Mit bemerkenswerter gestalterischer Gewandtheit,
ohne stilistische und sprachliche Modernismen hat die Berliner Journalistin Eva Kelch die
Lebenswirklichkeit und das gesellschaftliche Umfeld der Heldin gestaltet, gewissermaßen stellvertretend
für viele Frauen in der DDR. Der Spannungsbogen zwischen dem zeitgeschichtlichen Alltag und den
Idealen der Menschen wird deutlich gezogen. Dabei hat die Autorin eigene Erfahrungen
und Beobachtungen meisterhaft künstlerisch vertieft und phantasievoll verarbeitet.
Überzeugende psychologische Charaktergestaltung, innere Spannungselemente und
dialogreiche Szenen erhöhen das Leseerlebnis. Das Leitmotiv von einem Leben nach einer
inneren Lebensformel und das Bewahren traditioneller Werte machen das Buch besonders
lesenswert.
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