HEIDRUN SCHWARZWASSER

Band 1: Ferne Heimat

Teil 2 - Ferne Heimat - , Seiten 367-370

...Plötzlich befahl er, wies auf die Listen: „Einpacken das da.“ Sie widersprach ihm nicht. Rapte den Papierkram zusammen, verteilte ihn auf die Fächer ihres Schreibtisches, während er sich daranmachte, mit peinlichster Genauigkeit Scheinbündel um Scheinbündel, Münz-türmchen um Münztürmchen in die Stahlkassette zu sortieren. Er verschloß sie energisch. Riß die Tür zum Panzerschrank auf und stopfte die Kassette hinein, ließ die Tür zuknallen. „Und nun verschließen wir in dem massigen Schrank diesen schrecklichen Tag - er wird darin ersticken. Was glauben Sie, wie schnell sich der Kollege morgen einfinden wird bei Ihnen, dem die tausend Rubel fehlen.“ Er zuckte die Achseln, „hätte ja besser nachzählen können.“ Resolut packte er seinen Drehstuhl, zog ihn an seinen Schreibtisch zurück. Geduldig wartete er auf Heidrun. Sie hatte inzwischen alle Unterlagen verstaut, war in ihre Jacke geschlüpft. Nun hangelte sie sich die Tüte vom Boden auf. „So, ich bin startbereit, mein Herr! Wir können gehen.“
Er aber rührte sich nicht von seinem Platz, verschwommen nur in der Dunkelheit des Raumes zeichneten sich die Umrisse seiner hohen Gestalt von der Wand ab. „Nun? Was ist. Wollen Sie hier übernachten?! Und allein den Fehler suchen?!“ Er antwortete nicht sogleich, dann sagte er zögernd, und seine Stimme klang gepreßt: „Heidrun, wissen Sie -.“
„Ja?“
Plötzlich kam er auf sie zu, blieb unschlüssig vor ihr stehen, verhakelte seine Finger ineinander und rieb sie unentwegt. Er sah sie an, sagte nichts, doch sein Blick bedrängte sie. „Was haben Sie?“ fragte sie unsicher, bemüht, in seinen Zügen zu lesen, trotz der Dunkelheit. „Wissen Sie - ich meine - es ist besser, Sie wenden sich mit allem an mich, ich kann verstehen - wie alles den Menschen kalt berührt, wie einsam er sich fühlt, wenn er im Ausland ist zum ersten Male und für längere Zeit.Unter fremden Menschen.“ Langsam wandte er den Blick zum Fenster, sah zu dem astzerfetzten grauen Dunkel über der Mauer. „Ich kann verstehen - wie verzweifelt man ist, wenn es Schwierigkeiten gibt. In der Arbeit zum Beispiel. Und wie man sich sehnt nach einem Menschen, der Verständnis hat dafür. Einfach nur nach einem Menschen -.“ Sinnend schaute er in das kalte Grau des fliehenden Tages. „Denn auch ich war vor Jahren im Ausland - ich war noch sehr jung damals, sehr jung. Bei Ihnen war ich. In der DDR, meine ich. Und empfand frierend diese Einsamkeit -. Anfangs, meine ich.“ Er brach ab, schritt zum Fenster, Bilder der Vergangenheit schienen ihn zu erregen, er klappte den Fenster- riegel auf und wieder herunter, geräuschvoll, als zerschlage er gewaltsam die Erinnerung. Se- kundenlang sah er auf den schmalen Hof hinaus, über den der Wind einen Papierfetzen fegte, und zu den noch kahlen Ästen des Kastanienbaumes, die an der Mauer schrapten im Winde. „Es ist kalt draußen. Noch immer.“ Ruckartig drehte er sich herum, sagte mit vorwurfsvoller Besorgnis: „Und Sie haben keinen Mantel mit. In dem dünnen Kostüm werden Sie frieren.“ Sie schüttelte den Kopf, lächelte.
„Gehen wir.“ Er schritt auf die Tür zu.
Sie verließen das Gebäude. Der Wind fegte die Straße entlang, ihnen entgegen. Sie fröstelte, nestelte an dem breiten Kragen ihres Kostüms, um ihn hochzuschlagen, vergrub das Kinn da- rin.
„Sehen Sie - es ist wirklich kalt. Sie werden sich was wegholen.“
Wieder schüttelte sie den Kopf, obwohl ihr die Kinnlade vor Kälte zitterte, und noch immer lächelte sie. Schweigend liefen sie nebeneinander. Jetzt erst fiel es ihr auf, daß er ja mitgegan- gen war in ihre Richtung. Denn die Station, von der er üblicherweise abfuhr, lag entgegengesetzt. Doch sie schwieg. Fürchtete sich vor Worten, sie zerschlügen diese wortlose Gemeinsamkeit, so dachte sie, trennten von ihr den Menschen an ihrer Seite. Möglicherweise. Sie gelangten zur Station.
Vor der Durchgangssperre zur Rolltreppe, die hinunterführte zum Bahnsteig, verabschiedeten sie sich. „Danke“, sagte sie leise, „danke.“
Er wehrte ab, schweigend.
Sie wand sich durch die Barriere, andere Fahrgäste waren nicht hier zu dieser Zeit, stellte sich auf die Treppe, rücklings, daß sie zu ihm sehen konnte. Er war stehengeblieben hinter der Sperre. Und während Heidrun langsam abwärtsrollte, wurde er plötzlich von Aufregung ge- packt, sein Blick flackerte eigentümlich, als er ihr nachsah und hervorhastete: „Daß Sie sich aber nicht aufregen - ich bitte Sie. Und essen - Kräftiges. Und vor allem: schlafen. Man muß sich dazu zwingen. Es geht, glauben Sie mir. Ich bitte Sie.“ Schneller und schneller drängte er die letzten Worte hervor und lauter, damit sie sie noch verstehen könne auf der stetig abwärts gleitenden Treppe. Sie nickte, lächelte zu ihm hinauf. Langsam wurde sie durch die Rolltreppe in die Tiefe gezogen, langsam, aber unentwegt.
„Bis morgen“, rief er ihr nach, stützte die Hände schwer auf die Barriere, beugte sich leicht darüber.
„Ja“, sagte sie leise, sehr leise, eine dumpfe Traurigkeit benahm ihr plötzlich die Stimme, „bis morgen.“
Aber ihre Worte konnte er nicht mehr verstehen.
Gleichmäßiglangsam rollte die Treppe abwärts, entzog den Menschen hinter der Barriere ihren Blicken. Und während sie in die Tiefe des langen schrägen Tunnels hinabglitt, sah sie vor sich jenes Bild, deutlich und klar, dennoch ein Spiegelbild nur ihrer Sinne: den Menschen, groß, sehr groß, der sich mit den Händen auf die Barriere stützte, ihr nachblickte, lange, ihr Worte sagte, aus denen Mitgefühl sprach und Besorgtheit. Und dieses Bild schien sich zu ver- engen, kleiner und kleiner zu werden, schien zusammenzuschmelzen zu einem winzigen Punkte, bis sie auch diesen nicht mehr sah. Denn die gleitende Treppe zog sie hinunter in die Tiefe des langen Schachtes, tiefer und tiefer, mitleidlos trennend....
Die kollegiale Beziehung zwischen Heidrun und dem jungen Russen festigt sich schließlich zu einer tiefen Liebe. Doch als Heidrun in die Berliner Dienststelle zurückkommt, wird sie wegen des Bezugs eines Opernprogrammes eines westberliner Senders fristlos entlassen. Ihr Kontakt zur Moskauer Vertretung und ihrem Freund zerbricht. Sie verliert ihr Image als integre Staatsbürgerin der DDR, damit auch die Möglichkeit, in einer anderen Verwaltungsstelle eine angemessene Stellung zu finden. So bleibt ihr nur die Arbeit in der Produktion als ungelernte Schichtarbeiterin. Sie findet Unterschlupf im VEB Wälzlagerwerk „Josef Orlopp“. Wider Erwarten bringt man ihr Verständnis und Hilfbereitschaft entgegen. Ausgenommen die Kollegin, mit der sie am Verpackungsautomaten, von Heidrun mit einer „Hornisse“ verglichen, zusammenarbeiten muß. Beide packen unentwegt in Ölpapier eingewickelte Wälzlager, die von einem routierenden Metallkranz über Gleitrinnen auf den Verpackungstisch rutschen, in Kartons, die von den Packerinnen zuvor aus einem gefalzten Pappstreifen zu falten sind. Dazu die folgende Szene: