HEIDRUN SCHWARZWASSER

Band 1: Zerstörte Ideale

Teil 1 - Zerstörte Ideale - , Seiten 7, 9/10

....Als Heidi sieben Jahre alt war und das Lesen erlernt hatte, entdeckte sie unweit von Schwarzwassers Wohnung an der Fassade eines Mietshauses ein Schild, das eine Klavierleh-rerin auswies, die am zweiten Hinterhof wohnte. Eines Tages steuerte sie entschlossen deren Wohnung an... Mutig öffnete sie die schwere Eingangstür, lief durch den Torweg in den ersten Hinterhof. Mit wütendem Gekläff sprang ein kleiner grauer Köter auf sie zu. Erschrocken blieb sie stehen. Plötzlich tauchte neben einer Galerie von Mülltonnen, die am linken Seiten-flügel stand, ein kleiner Junge auf mit bürstenkurz geschorenem Haar und in schmuddliger Kleidung, wieselte auf Heidi zu, machte „pscht, Pfiffi, pscht“ und klemmte sich den Köter unter den Arm. Das kleine Biest kläffte zähnefletschend weiter. Der Junge starrte Heidi stau-nend an, während er den Zeigefinger der freien Hand in die Nase bohrte. Neugierig fragte er, zog den Rotz hoch: „‘willst’n hin?“ Voll Abscheu sah Heidi auf den dreckigen Knirps herab, er war kleiner als sie. Hochmütig erwiderte sie: „Zu Frau von Birkenau.“ Die schwarzen Augen des Jungen weiteten sich rund, er fragte in wachsender Spannung: „Willste bei se spielen?“ Heidi runzelte die Stirn, meinte spitz: „Geht dich doch’n Dreck an, was ich von ihr will.“ Der Kleine glubschte sie böse an. „Frag ja bloß so.“...Ohne ihn eines weiteren Blicks zu würdigen, steuerte Heidi den Eingang zum zweiten Hinterhaus an,...
...den Kopf stolz erhoben, schritt sie durch die Hinterhöfe und an dem ärmlichen Jungen vorbei, der ihr noch oft über den Weg lief. Solche wie den ließ man unbeachtet... Er sprach sie nicht mehr an, sah ihr bloß staunend hinterher... Dann - sei es,...daß die geheime Neigung für sie ihn dazu drängte: Er schoß hinter den stinkigen Mülltonnen hervor, lief stumm neben ihr. Sie würdigte ihn keines Blickes. Am Eingang zum Treppenflur des zweiten Hintergebäudes sprang er ihr in den Weg. „Und du spielst wirklich noch immer bei Frau von Birkenau?“ Voller Bewunderung klebten seine Blicke an dem feinen Mädchen. „Warum sollte ich nicht bei ihr lernen?“ Hochmütig sah Heidi auf ihn herab. Er pfiff durch die Zähne, meinte überlegen: „Dit is’ vielleicht ‘ne Frage!“ Wenn man länger mit ihm sprach, schien er zu wachsen, nicht mehr so dümmlich zu sein. „Weil solche wie du doch hier nich’ herkomm’!“ Er schien vor Stolz über sein Wissen zu bersten. Heidi erschrak. Sie hätte nicht sagen können, warum. Doch irgend etwas schien ihr plötzlich dort oben in der kahlenWohnung und an der Frau mit dem Hut nicht geheuer. Muttis nachdrückliche Bitte, Vati nichts von ihrem Unterricht zu erzählen, begann sie zu bedrücken. Zaghaft fragte sie: „Wer kommt denn sonst zu Frau von Birkenau?“ „Na keener außer dir! Seit se Frau von Birkenau und ihr’n Mann oder den, mit den se leben tut, aus de Wohnung wegjeschleppt und in d’Kittchen jebracht ham, jeht doch von de vornehme Burschwas keener mehr bei se zur Stunde. “ Er triumphierte über sein aufgeschnapptes Wissen, das er dieser Feinen als Neuigkeit auftischen konnte. „Die Frau von Birkenau is’ denn zurück, aber ohne Haare“, ergänzte er der Vollständigkeit halber, „bloß den Veitel Rosenbaum ham se um de Ecke jebracht. “ Heidi durchfuhr es kalt - schreckenvolle Bilder, die sie im „Völkischen Beobachter“ gesehen hatte, der Zeitung, die immer auf dem Schreibtisch lag, tauchten in ihrer Erinnerung auf - Frauen und Kinder mit zerpeitschten blutüberströmten Ge-sichtern. Und sie hörte Muttis Stimme ‘Kind, um Gottes willen, guck dir das nicht an. So ent-setzlich foltern nur die bolschewistischen Russen. Sie sind unsere schlimmsten Feinde, schreibt Vatí von der Front. Es sind Verbrecher an der kultivierten Menschheit -’. Und dieser Veitel Rosenbaum war auch so ein Verbrecher, ganz bestimmt. Im Banne der entsetzlichen inneren Bilder und der Gedanken an die russischen Verbrecher fragte Heidi angsterfüllt: „Sind denn noch andere Russen oben?“ Sie wies mit dem Kopf zur Wohnung der Frau von Birke-nau. Der Junge stierte sie an, fragte perplex: „Ja sind die denn schon hier?“ Im nächsten Mo-ment aber meinte er geringschätzig: „Du quatscht vielleicht ‘n Blech. Da könn’ ja noch keene Russen oben jewesen sein. Die Sowjetarmee is’ ja noch ville zu weit weg von unsre Haupt-stadt. Hat mein großer Bruder jesagt“, ergänzte er stolz. „Und der lügt nich’, du.“ ...

Heidrun ist herangewachsen, arbeitet u.a. im Ministerium für Außenhandel und Innerdeutschen Handel der ehemaligen DDR, und von dieser Dienststelle wird sie als Urlaubsvertretung für den Finanzbearbeiter in die Moskauer Handelsvertretung delegiert. Dort sitzt sie mit einem jungen Russen in einem Zimmer zusammen, der in der Vertretung als Dolmetscher arbeitet. Er ist ihr nicht unsympathisch. Sie muß nun ihre erste große Bewährungsprobe im Ausland bestehen: Die Gehaltszahlung an über hundert Mitarbeiter. Nachdem sie das Geld ausgegeben hat, macht sie den ‘Kassensturz’, wozu sie erst nach Feierabend Zeit hat. Doch zu ihrem Ent-setzen ergeben die Berechnungen: Sie hat tausend Rubel zu viel in der Tageskasse, aus der sie laufend Geld gewechselt hat. Ihr Zimmerkollege kommt nach Dienstschluß noch einmal in die Vertretung, um sich davon zu überzeugen, daß Heidrun gegangen ist, demnach mit der Gehaltszahlung alles geklappt hat. Als er die deutsche Kollegin noch vorfindet, total verzwei-felt, hilft er ihr bei der Fehlersuche. Dazu die folgende Szene: